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Die Bilder Nr. 9, 10, 23 stammen von KUS, die übrigen von Mona. 

 

191 Tage - Das größte Abenteuer meines Lebens

„Mona. Mona! MONA! Du musst aufstehen, es ist halb zwei und du hast in einer halben Stunde Wache. Zieh dich lieber warm an, es hat nur 10° C draußen und wir haben 5 Windstärken. Regnen tut es auch, du wirst deinem Ölzeug dankbar sein! Ach, und fast hätte ich es vergessen: Im Messekühlschrank sind noch Nudeln mit Pesto von heute Mittag. Wir sehen uns in 25 Minuten auf dem Achterdeck. Ich geh jetzt den Rest deiner Wache wecken. Machst du dein Kojenlicht an und stehst auf? Ja – ok dann bis gleich!“

 

Wo wir überall waren – unsere Reiseroute
So oder so ähnlich wurde ich von Mitte Oktober bis Ende April täglich geweckt. Na gut, nicht jedes Mal mitten in der Nacht, aber dass ich um kurz vor zwei in der Nacht aufstehen musste, war schon nichts Ungewöhnliches.
Zu dieser Zeit war ich mit dem Toppsegelschoner und Schulsegelschiff Thor Heyerdahl im Rahmen des Projekts „Klassenzimmer unter Segeln“, kurz KUS, auf den Spuren der großen Entdecker und Abenteurer Humboldt und Columbus unterwegs.
Unser Start war am 19. Oktober 2019 in der Schwentine in Kiel, wohin wir am 26. April 2020 auch wieder zurückkamen. Dazwischen legten wir auf unserer 1. Etappe kurze Stopps in Falmouth (England), La Coruña (Spanien; ein ungeplanter Zwischenhalt) und Safi (Marokko; 4 Tage) ein, bevor wir auf Teneriffa (kanarische Inseln) nicht nur unseren ersten größeren Landaufenthalt von einer Woche hatten, sondern auch auf den 3.718 m hohen Teide gestiegen sind, wo ich mein Referat passend zum Thema „Vulkanismus“ auf 2.200 m hielt.
Die erste Atlantiküberquerung, die wir mit Hilfe des Passatwindes segelten, meisterten wir innerhalb von 25 Tagen mit einem Tag Pause auf den Kap Verden.
Vier Tage lang besuchten wir anschließend verschiedene karibische Inseln, bevor wir nicht nur die nächsten 5 Tage auf Grenada verbrachten, sondern dort auch ein etwas anderes Weihnachten bei über 30° C feierten.
Bis nach Panama, wo wir 19 Tage durch das ganze Land zogen, brauchten wir eineinhalb Wochen und verbrachten dann noch ein paar Nächte auf den vorgelagerten San Blas Inseln, bevor wir Panama unsicher machten.
Wieder nur 10 Tage auf See und schon hieß es wieder „Land in Sicht!“ – diesmal war es Kuba.
Dieses sehr andere und eindrucksvolle Land bereisten wir ganze drei Wochen und waren davon 7 Tage mit den Fahrrädern unterwegs, welche wir später als Spende an der kubanischen Schule ließen, die wir für zwei Tage besuchten.
Der erste Teil der zweiten Atlantiküberquerung bereitete uns schon mal auf die folgende stürmische Zeit vor, die uns auf dem Nordatlantik bevorstand. Die Bermudainseln erreichten wir nach 11 Tagen auf See und neben Schiffsarbeiten und Unterricht hatten wir hier noch einmal etwas Zeit, neue Kräfte für die letzten eineinhalb Monate zu sammeln, welche wir auch sehr gut gebrauchen konnten.
Obwohl wir nach einer langen und anstrengenden Überfahrt voller Ungewissheiten auf den Azoren anlegten, durften wir hier auf Grund von Corona keinen Fuß auf festen Boden setzen. Genauso ging es uns bei unseren Stopps in Falmouth und Den Helder (Niederlande), sodass wir am Ende die Thor Heyerdahl für 47 Tage nicht verließen.
Am 26. April 2020 liefen wir um 11:00 Uhr in Kiel ein und erreichten nach 191 Tagen den Startpunkt unserer Reise. Wir gingen nacheinander von Bord und die Reise war hier zu Ende – aber nicht komplett, denn in unseren Herzen und den entstandenen innigen Freundschaften lebt sie weiter!

Alltag auf See

Bis jetzt habe ich ausschließlich die Reiseroute beschrieben, und auch wenn wir 13 Länder und 4 verschiedene Kontinente bereisten, waren wir doch die meiste Zeit auf dem Schiff, der Thor Heyerdahl - unserem Zuhause.
Neben Unterricht, was die Voraussetzung für das Stattfinden unseres Projekts ist, hatten wir auch einiges an anderen Aufgaben. Wir 34 Schüler, die aus ganz Deutschland kamen, waren in zwei Gruppen aufgeteilt, und an dem einen Tag hatten 17 von uns Jugendlichen Unterricht und am anderen die anderen 17, und so wechselten wir uns jeden Tag ab.
Damit das auch funktionierte und wir in Ruhe die Schulbank, naja die Bierbänke, die an Deck aufgestellt waren, drücken konnten, hatten wir an unserem schulfreien Tag unseren Wachtag.
Wir waren ein Segelschiff und somit musste rund um die Uhr jemand wach sein und unser Schiff fahren. Dazu waren wir in vier Wachen eingeteilt, die von 11-2, 2-5, 5-8 oder 8-11 Uhr gingen und sowohl tagsüber als auch nachts besetzt sein mussten.
In der Wache mussten wir einiges an Aufgaben tätigen. Dazu gehörte das gewissenhaft Ausguck gehen, am Ruder stehen und die Thor auf Kurs halten und zur ganzen Stunde die derzeitige Position in die Seekarten eintragen, verschiedene Wetterdaten, wie Luft- und Wassertemperatur, aber auch die Windstärke und -richtung notieren. Immer um halb begab sich ein Wachgänger auf die sogenannte Sicherheitsrunde, bei der er schaute, dass alles seefest verstaut war, es nirgends brannte, kein Wasser im Schiff und alle Sicherheitsvorrichtungen intakt waren und mögliche Gefahrenstellen gemieden wurden. Auch das Wecken der gesamten Besatzung lag in der Verantwortung der fahrenden Wache. Hierfür trug man sich in das Weckbuch ein, das im Navigationsraum, kurz der Navi, war und wurde dann zu dieser Uhrzeit geweckt.
Sauber sollte unser Zuhause auch sein, sodass wir jeden Tag eine Stunde einen bestimmten Bereich im Schiff putzten, der eben in dieser Woche der jeweiligen Wache zugeteilt wurde, wie zum Beispiel unser Sanitärbereich.
Auch die Schule durfte am Wachtag natürlich nicht fehlen, und so hatten wir an diesen Tagen zu festgelegten Zeiten 90 Minuten Freiarbeit, in denen wir uns eigenständig nochmals mit dem am Tag vorher durchgenommenen Stoff befassten oder uns auf eine anstehende Klausur vorbereiteten.
Den ganzen Tag über waren wir, wie unser Kapitän zu sagen pflegte, Stand-by, falls die fahrende Wache Unterstützung brauchte oder ein Segelmanöver anstand. Um hierfür das nötige Wissen zu haben und ohne viele Anweisungen zu wissen, was zu tun ist, lernten wir in relativ kurzer Zeit den Aufbau der unterschiedlichen Segel, ihre Funktion und ihre Bedienung und die 116 Tampen, die zu benutzen waren.

Kochen, kochen und noch mehr kochen
Eine dritte „Art“ von Tag gab es auch noch: den Backschaftstag!
Die 50-köpfige Mannschaft, die aus uns 34 Schülern und den 16 Erwachsenen aus unserer Stammbesatzung, zu denen u.a. die Lehrer, aber auch unser Kapitän und Projektleitung und und und zählten, bestand, musste natürlich kulinarisch versorgt werden.
In der Backschaft waren wir zu viert – einer aus jeder Wache und nur diejenigen, die an dem Tag keinen Unterricht hatten. Meistens waren wir vier Jugendliche, aber oft unterstützte uns auch unser Stamm, sodass wir drei Schüler und ein Erwachsener in der Kombüse (= Küche) waren.
An diesem Tag waren wir aus den Wachen und allen anderen täglichen Tätigkeiten befreit und durften die Nächte davor und danach durchschlafen. Das war aber auch dringend nötig, da der Backschaftstag um halb sechs begann. Zuerst wurde das Frühstück mit frischem Obstsalat hergerichtet, was für Wache 4 um 7:20 Uhr fertig sein sollte, damit sie um 8 Uhr die Wache 3 ablösen konnten, die dann sofort hungrig beim Frühstück auftauchte. Die anderen beiden Wachen durften ausschlafen und hatten bis um 10 Uhr die Möglichkeit, die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen.
Pünktlich um 12 Uhr musste dann das Mittagessen für alle fertig sein, und auch danach gab es keine Pause, da natürlich auch immer alles abgespült werden musste (nein, wir hatten keine Spülmaschine, das machten wir alles von Hand), und um zehn vor drei gab es dann auch schon Kaffee und Kuchen und anschließend fingen bereits die Vorbereitungen für das Abendessen an, welches um 18 Uhr auf dem Tisch stehen musste. Als Backschaftler war es für uns unerlässlich, einen Plan und ein gutes Zeitmanagement zu haben, da alles an den Mahlzeiten und dem damit verbundenen Tagesplan hing und sich ansonsten alles verschob, was dann schnell zu ungemütlicher und gestresster Stimmung führen konnte.
Sobald der letzte Teller abgespült, alle Tische gewischt, der Kombüsenboden gespült und wirklich alles in der Kombüse geputzt und die Sonderputzaufgabe, die jeden Tag eine andere war, erledigt war, konnte sie abgenommen werden. Hierzu kam einer vom Stamm in die Kombüse und schaute noch einmal über alles drüber. Und wehe, wir hatte das Essen für die Nachtwachen vergessen, welches in den Messekühlschrank gestellt werden musste!
Mit einem „Goude Ruh!“ durften wir dann endlich duschen gehen und später hundemüde in die Koje fallen. Bis das aber passierte, konnte es gut und gerne auch schon mal 23 Uhr oder noch später werden, aber je mehr Übung und Routine eintrat, desto schneller waren wir auch fertig und konnten schon um 20 Uhr das Licht in der Kombüse löschen.

Schule gibt es auch noch
Mathe, Deutsch, Englisch, Spanisch, Geografie, Geschichte, Physik, Chemie und Biologie. Alles Fächer, die zu Hause auch unterrichtet werden und welche so etwas wie einen „normalen“ Unterricht mit sich brachten, der aber alles andere als normal war.
Ein Schultag begann um 8:30 Uhr mit der ersten Stunde, hörte meistens um 17:35 Uhr auf und war, wie ich schon erwähnte, alle zwei Tage. Insgesamt hatten wir nur um die 40% der Unterrichtszeit wie an Land und schrieben dennoch in jedem der neun Fächer eine Klausur.
Dazu kamen von jedem ein halbstündiges Referat, das vor der Reise ausgearbeitet werden musste, und ein 10-minütiger Vortrag, den wir unterwegs vorbereiteten und dann genauso wie das Referat hielten. Beides handelte von Unterrichtsinhalten, die wir so durch unsere Mitschüler übermittelt bekamen und nicht durch einen Lehrer.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wenn mir, während ich mir gerade den Kopf über eine physikalische Formel zerbrach, das Wasser des Atlantiks in regelmäßigen Abständen um die Füße schwappte, die Sonne im Nacken brannte und vielleicht auch mal der Ausruf „Delfine an Backbord!“ kam. Dass dann erst einmal die wunderschönen Tiere beobachteten wurden, war natürlich verständlich, aber irgendwann kehrten wir doch immer ins „Klassenzimmer“ zurück.
Von Teneriffa bis Kuba hatten wir auf dem Hauptdeck Unterricht und saßen dicht gedrängt auf den Bierbänken, die natürlich festgebenselt (festgebunden) wurden, um bei der nächsten Welle nicht den Abgang zu machen. Auch Wäscheklammern waren für mich fast unerlässlich, wenn ich einigermaßen schönschreiben wollte und mir vor allem die Blätter beim nächsten Windstoß nicht über Bord fliegen sollten.
Die Tatsache, dass meine Mitschüler nicht nur mit ihren Unterlagen, sondern auch mit einer Sonnenbrille auf der Nase, Sonnencreme in der Hand und einer Cap zum Schutz vor der Sonne zum Unterricht erschienen, zeigte, dass es allein schon von den Rahmenbedingungen ganz anders war.
Ab Kuba hatten wir dann in der Messe (unserem „Aufenthaltsraum“ unter Deck) Unterricht, was auch keinem Klassenzimmer entsprach, da auf der Backbordseite teilweise noch gefrühstückt wurde, eine neue Runde „Siedler von Catan“ startete oder die Backschaft das gespülte Geschirr verstaute.
Nach Kuba tauchte ich auch nicht mehr in kurzen Klamotten zum Unterricht auf, sondern war eingepackt in die dicksten und wärmsten Sachen, hatte eine Mütze auf dem Kopf und brachte meinen Schlafsack mit in die Messe und versuchte so, mich warm zu halten und gleichzeitig dem Unterricht zu folgen.
Ansonsten lernten wir das Gleiche, wie alle anderen Schüler der 10. Jahrgangsstufe, waren aber viel mehr in unserer Eigeninitiative gefragt. Der Stoff wurde anhand von Erlebtem erklärt oder bereitete uns auf das vor, was wir anschließend erlebten. Beispielsweise beschäftigten wir uns zwischen Panama und Kuba mit dem Sozialismus, und diesen erfuhren wir auch hautnah bei unserem Landaufenthalt, was das Ganze nicht mehr zu etwas machte, wovon ich einmal gehört haben sollte, sondern mir zeigte, dass es real ist und mich auch bis heute noch gedanklich beschäftigt.

Fremde Länder, andere Kulturen, Gedankenchaos
Unsere Landaufenthalte gestalteten sich auf zwei Arten. In Panama und auf Kuba verließen wir die Thor für die Zeit des Aufenthaltes, reisten durchs Land und übernachteten in Hostels/Hotels oder bei Einheimischen. Bei allen anderen Stopps lebten wir weiterhin wie gewohnt auf der Thor, aber unternahmen Tagesausflüge oder hatten die Möglichkeit, in kleinen Gruppen das jeweilige Land auf eigene Faust zu erkunden.
Jedes dieser Länder blieb auf seine eigene Weise in meinen Erinnerungen:
In Falmouth joggten wir beim Run & Dip gegen den Wind und den Regen an und hätten gar nicht mehr schwimmen gehen müssen, da wir durch die Wetterbedingungen schon komplett geduscht waren. Aber obwohl das Wasser eiskalt war, rannten wir trotzdem in die Wellen.
Den Zwischenstopp in La Coruña mussten wir aufgrund des Hurrikans Pablo einlegen, der gleichzeitig mit uns in der Biskaya unterwegs war und vor dem wir uns in der spanischen Stadt verkrochen. Hier hatten wir dadurch dann aber etwas Zeit zum Runterkommen und Verarbeiten der vorangegangenen ersten Wochen.
Wir waren der erste Jahrgang, der in Safi angelegte und waren von allem sehr beeindruckt, denn diese Kultur war komplett anders als das, was wir kannten.
Unser erster Berg – der Teide – war mein Highlight auf Teneriffa und schweißte uns als Gruppe noch einmal mehr zusammen, da wir füreinander da waren und gemeinsam auf diesen Gipfel stiegen.
Ich glaube, zur Ankunft in der Karibik und in der neuen Welt muss ich gar nicht viel sagen.
In Panama war ich unglaublich beeindruckt vom Regenwald, aber die sozialen Missstände und Unterschiede, die hier vorherrschen, brachten mich viel zum Nachdenken.
Kuba zwei Wochen später beschäftigte mich aber noch länger und tut es auch heute noch und ich möchte diese beiden Landaufenthalte auf keinen Fall missen, da wir wirklich mit den Einheimischen lebten und mit etwas konfrontiert wurden, was wir uns hier in Deutschland nie vorstellen können, wie zum Beispiel in der ganzen Stadt kein Wasser kaufen zu können, da es keines mehr gab.
Den totalen Gegensatz bildete Bermuda, wo es aussah, als wäre ich in einer Traumwelt gelandet mit wunderschönen, bunten kleinen Häusern, toller Landschaft und türkisblauem Wasser ringsherum.
Die Azoren sah ich aufgrund von Corona leider nur aus guter Entfernung von der Thor aus, aber diesen verpassten Landaufenthalt hole ich definitiv noch nach und werde auf den Pico, den höchsten Berg der Azoren, steigen.


Insgesamt kann ich sagen, dass die Reise mich dazu gebracht hat, viele Sachen aus einem anderen Blickwinkel noch einmal zu betrachten und dass es nichts gibt, was ich nicht schaffe, besonders wenn ich so viele großartige und wunderbare Menschen und Freunde, die zu meiner zweiten Familie wurden, um mich herum habe.
In diesem halben Jahr habe ich einiges über mich und andere gelernt, bin über meine Grenzen gegangen, habe aber auch gelernt, sie zu akzeptieren und zu respektieren.
Ich bin unendlich froh, all diese Erfahrungen gemacht zu haben und werde mein Leben lang glücklich darauf zurückblicken.
Mona Potrykus